Das Blaue Wunder

»Der Ankerkasten, in dem kein Anker ist« –
ein Beitrag aus dem Elbhang-Kurier (3/2006)

Die Loschwitzer Brücke mit ihrer charakteristischen Silhouette und ihrem hellblauen Farbanstrich ist in den letzten hundert Jahren zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Stadt Dresden geworden. Sie ähnelt in ihrer Gestalt einer der klassischen Hängebrücken mit Tragkabeln oder -ketten, die in den Widerlagern an beiden Flussufern bodenverankert sind. Tatsächlich hat der Erbauer Prof. Claus Koepcke in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Krüger jedoch bis 1893 eine besondere Hängebrücken-Konstruktion verwirklicht.

Das Blaue Wunder ist eine steife Hängebrücke mit drei Gelenken in der Mittelöffnung und je einem an den Widerlagern. Die Tragwände des zweifachen Strebenfachwerks sind dadurch in vier hochgestellte Dreiecksverbände geteilt; sie bilden die markante Seitenansicht der Brücke.

Die hochkant gestellten, steifen Gitterdreiecke sind an den Spitzen der Pylone gelenkig verbunden (Punkt B) Sie stellen zur Brücken- bzw. Flussmitte hin jeweils „Ausleger“ dar, die an der Spitze durch ein weiteres Gelenk (im Scheitelpunkt A), im Untergurt gekoppelt sind. Dieses Gelenk ist sehr schön zu sehen, wenn man zu Fuß über die Brücke geht oder nicht zu schnell über die Brückenmitte fährt.

Die Pylone, keine wuchtigen Stahl-Stein-Türme wie bei der Tower-Brücke in London oder wie bei der Brooklyn-Brücke in New York, sind schlanke, in das Strebenfachwerk integrierte Stahlrahmen, die nur die senkrechten Kräfte in die beiden an den Flussufern stehenden Brückenpfeiler einleiten.

Damit sie die Kippbewegungen der Gitterdreiecke (infolge Belastung der Brückenfahrbahn) mitmachen können, sind die Auflagepunkte der Pylone als Rollen-Kipplager (Punkt C) ausgeführt, als Spitzen in Form einer umgekehrten Pyramide aus Stahlguss. Die horizontalen Kräfte der Brückenfahrbahn werden durch ein Rollensystem auf der Unterseite des Pyramidenkörpers berücksichtigt.

Die »Anker-Kammer«

Statt Widerlagern (Ankern) im Erdreich der Flussufer wählte Prof. Koepcke also eine andere Konstruktion: Die in den Brückenendpunkten auftretenden vertikalen und horizontalen Kräfte werden durch jeweils ein Winkelhebewerk mit Auflager und Ballast aufgenommen. In der Skizze ist dies dargestellt. Während die senkrechten Auflagenkräfte direkt in den Auflagepunkt E geleitet werden, werden die waagerechten Kräfte über den gelenkig angeschlossenen Winkelhebel mit aufliegendem Ballast kompensiert.

Der Ballast ist beträchtlich; 1.500 Tonnen je Brückenende, bestehend aus Roheisen, Schlacke, Sandsteinblöcken und den 225 Tonnen Stahl der Winkelhebelkonstruktion.
Die Bezeichnung Anker ist deshalb insofern irreführend, weil diese Gegengewichte nicht mit dem Erdboden verankert sind, sondern auf vier eisernen kugeligen Lagern stehen. Das also sind die »Anker« des Blauen Wunders.

Der »Ankerkasten« wurde als eine begehbare Kammer ausgeführt, um den riesigen Winkelhebel inspizieren und gegen Rost schützen zu können. Eine weise Maßnahme, wie sich beim Dresdner Hochwasser 2002 ergab: Die Kammern wurden damals geflutet, um sie gegen den Auftrieb durch das Flutwasser zu schützen. Später konnten sie dann bequem entleert, gereinigt und die Konstruktion mit einem neuen Farbanstrich versehen werden.

Schlussbemerkung

In einem Aufsatz wie diesem, bestimmt für eine überwiegend nicht-technische Leserschaft, haben wir im Interesse der Verständlichkeit vieles vereinfacht. Es kam uns darauf an, dem Leserpublikum wenigstens die Grundprinzipien dieses nicht häufig ausgeführten Konstruktionskonzeptes nahe zu bringen.

Joachim Stückrad und Prof. Wolfram Gibitz